Vor 70 Jahren: Citroëns Hydropneumatik


1954 sah die Welt beim 15 H erstmals einen hydropneumatisch gefederten Citroën, ein Jahr später kam mit der DS der ganz große Durchbruch. Wir erinnern an ein Alleinstellungsmerkmal des Doppelwinkels.
 
Text: Jan Eggermann, Bilder: Garage 2CV, Slg. Immo Mikloweit
 
Das 1919 als Autohersteller gegründete Unternehmen Citroën stand lange Zeit an der Spitze, was innovative Entwicklungen angeht. Erfindergeist, avantgardistische Technik und deren Übernahme in die Serienfertigung waren die Markenzeichen des Doppelwinkels. Das hatte viel mit Firmengründer André Citroën zu tun, in dessen Wirkungszeit die Ganzstahlkarosse oder der „schwebende Motor“ (siehe auch André Citroën Zeitung 4/22) fielen. Dabei handelte es sich zwar nicht um originäre Citroën-Erfindungen, doch zu Citroëns Geschick gehörte es, der eigenen Automobilproduktion stets die neuesten Innovationen zu Eigen zu machen. Mit Eintritt von André Lefebvre Anfang des Jahres 1933 und damit noch zu Lebzeiten von André Citroën kam nochmals ein großer Innovationsschub, der bereits nach 404 Tagen im wohl größten automobilen Wurf der frühen Dreißiger Jahre gipfelte: Die Traction Avant war das erste Automobil mit selbsttragender Karosserie und Frontantrieb und eine Meisterleistung in Sachen Produktion. Mit Übernahme der Citroënwerke durch Michelin 1934/35 geriet zwar die internationale Ausrichtung der Marke in den Hintergrund, doch die innovative Mannschaft rund um Lefebvre blieb. Sie war es, die ab 1936 den 2CV entwickelte. Beteiligt daran auch Paul Magès. Der hatte sich sein Fachwissen autodidaktisch angeeignet und war beim Selbststudium technischer Literatur auf den Gedanken gekommen, dass es doch eigentlich bessere Federungen als die aus Stahl geben müsse: Der Geburtsmoment der Hydropneumatik! Citroën-Generaldirektor Pierre-Jules Boulanger erkannte das Potential der neuartigen Technik,doch beim 2CV kam sie noch nicht zum Einsatz. Denn gedanklich war Boulanger schon beim Nachfolger für die großen 11 und 15 CV, der für Mitte der Fünfziger vorbereitet wurde. Gewissermaßen als Test erschien im Mai 1954 der Traction 15 H mit einer hydraulisch gefederten Hinterachse. Ihm folgte 1955 mit der avantgardistischen Citroën DS dann ein Auto, bei dem Federung, Bremse und Lenkung durch das Hydrauliksystem zentral verbunden waren. Erst viele Generationen und 63 Jahre später verabschiedete Citroën die Technik mit Auslaufen des C5 zweiter Generation.
 

Im Foyer der Pariser Citroën-Hauptverwaltung am Quai de Javel: Ein 15 SIX, das Spitzenmodell der frühen 50er Jahre.

Im Foyer der Pariser Citroën-Hauptverwaltung am Quai de Javel: Ein 15 SIX, das Spitzenmodell der frühen 50er Jahre.


Tiefer Einblick: Auf der Citroën Strasse der Techno Classica 2023 ist der Federzylinder eines 15 H per Spiegel gut sichtbar.

Tiefer Einblick: Auf der Citroën Strasse der Techno Classica 2023 ist der Federzylinder eines 15 H per Spiegel gut sichtbar.


Neuartig und mit besonderem Komfort

Die hydropneumatische Federung kann man als Weiterentwicklung der 1925 von George Messier erfundenen oleopneumatischen Federung sehen, die man vor allem in Flugzeugfahrwerken antraf. Dass sie bei Citroën zum Einsatz kam, ist dem schon erwähnten Paul Magès zu verdanken, der später auch die geschwindigkeitsabhängige Lenkung DIRAVI erfand. Mit der Hydropneumatik entwickelte er eine technische Lösung, die sowohl eine Federungs- als auch eine Dämpfungsfunktion erfüllt. Dabei vereint die Hydropneumatik die hydraulische Kraft mit der Kompressionsfähigkeit von Stickstoff. Das System beruht auf einer Hochdruckpumpe und Kugeln, die mit jedem Rad verbunden sind und durch eine dichte, verformbare Membran geschützt werden, die Stickstoff enthält. Der am Rad befestigte Schwingarm ist mit einem Ferderungszylinder verbunden, an dessen Ende die berühmte Federkugel verschraubt ist. Je nach Beschaffenheit des Untergrundes interagiert die im System befindliche Hydraulikflüssigkeit mit dem in den Federkugeln vorhandenen Stickstoff: Wird etwa bei Bodenwellen der Stickstoff durch die Hydraulikflüssigkeit komprimiert, so geschieht in Senken das Gegenteil.
 
Bereits im allerersten Citroën-Modell mit Hydropneumatik – dem besagten 15 H – findet sich bereits eine Eigenheit, die bei allen unbestrittenen Vorteilen der heute von Citroën verwendeten Federungs- und Dämpfungssystemen oft schmerzlich vermisst wird. Denn jeder Citroën-Hydropneumat hielt immer das selbe Niveau. Man konnte den Wagen beladen wie man wollte, ohne dass sich die Bodenfreiheit änderte. Vorausgesetzt natürlich, dass die Hydraulikpumpe in der Lage war, auch weit über Zulassungsgrenzen liegenden Ladungen Paroli zu bieten. Das Niveau selbst ließ sich auch regulieren: Ging das im 15 H noch mittels eines Hebels im Kofferraum, hob oder senkte man später bequem per Wählhebel vom Fahrersitz aus. Hauptvorteil der Hydropneumatik war jedoch ihr ausgesprochen hoher Komfort, der sich „durch eine außergewöhnliche Weichheit auszeichnet, da die Steifigkeit im Vergleich zu den traditionellen Metallfedern, die zu den traditionellen Stoßdämpfern gehören, verringert wurde,“ wie der L‘Argus in einem Nachruf auf die Technik schreibt.

 
Dank der ausgeklügelten Hydropneumatik für Bremse, Lenkung, Federung und Dämpfung eine Revolution: Die 1955 vorstellte Citroën DS, hier auf dem Automobilsalon in Turin.

Dank der ausgeklügelten Hydropneumatik für Bremse, Lenkung, Federung und Dämpfung eine Revolution: Die 1955 vorstellte Citroën DS, hier auf dem Automobilsalon in Turin.


 
Am Anfang um Längen besser als herkömmliche Federungen

Bei ihrer Einführung war der Kompromiss zwischen Komfort und Straßenlage um Längen besser als bei herkömmlichen Federungen. Unvergessen Alexander von Spoerl, der mit Blick auf die DS alle anderen Autos für gestrig hielt. Und so war es über mehr als 60 Jahre auch. Erst durch Einzug der Elektronik und Fortschritte bei der Dämpfung verlor sie langsam an Relevanz, vor allem im Hinblick auf die Kosten und den Platzbedarf. Andererseits erkannte Citroën die hydropneumatische Tradition als Teil der Markenidentität an, was dann in den vergangenen Jahren zur Entwicklung hydraulisch-progressiver Dämpfer führte. Sie findet man heute quasi als Reminiszenz an die Hydropneumatik und zur Betonung des Anspruchs von Komfort in vielen Citroën-Personenwagen. Vor allem im C5 X führt die neue Technik in Verbindung mit der Elektronik zu hervorragenden und der Hydropneumatik sogar ähnlichen Ergebnissen – mit Ausnahme der automatischen Niveauregulierung. Die Hydropneumatik wurde in zahlreichen Mittel- und Oberklassemodellen der Marke eingesetzt. Nach dem 15 H und DS 19 gab es ab 1957 die vereinfachte Version ID 19. Selbst in 267 M35 mit Wankelmotor war sie zu finden, das einzige serienmäßig mit dieser Technik ausgestattete „A-Modell“ überhaupt. 1970 kam mit dem GS erstmals ein Mittelklassewagen mit Hydropneumatik, ebenso wie der prestigeträchtige SM. Man sah sie im CX von 1974 genauso, wie im BX 1982. Per Elektronik zur „Hydractive“ aufgewertet gab es sie ab 1989 im XM, bei dem es für jede Achse noch eine zusätzliche Federkugel gab, mittels derer sich elektronisch gesteuert Dämpfungsmodi „weich“ oder „sportlich“ einstellen ließen. Einen weiteren Innovationssprung brachte 1993 der Xantia. In dessen höheren Ausstattungsvarianten fand sich seitdem die „Hydractive II“. 1994 kam mit Einführung des SC-MAC (Système Citroën de Maintien d‘Assiette Constante) eine liebenswerte Eigenheit bisheriger
Hydropneumaten abhanden: Fortan sanken sie nicht mehr, um sich nach erneutem Anlassen wieder langsam in eine erhabene Fahrposition zu heben. Das bedeutete den Verlust eines wahren Bordsteintheaters, das Unbedarfte am Straßenrand regelmäßig ins Staunen versetzte…
 
Der technische Aufbau eines typischen Federzylinders der Hydropneumatik von Citroën.

Der technische Aufbau eines typischen Federzylinders der Hydropneumatik von Citroën.


 
Beeindruckende Entwicklungsstufe: Xantia Activa
Die beeindruckendste Entwicklungsstufe der Hydropneumatik fand sich mit insgesamt 10 Federkugeln im 1995 vorgestellten Xantia Activa. Mit ihm war es möglich, praktisch ohne jede Karosseriebewegung auch sehr scharf gefahrene Kurven zu nehmen. Eine Technik, bis heute unerreicht ist. Im Netz gibt es dazu einige aufschlussreiche Vergleichtests aus jüngerer Zeit… Im Xantia-Nachfolger C5 fand sich unter der Bezeichnung Hydractive 3 bzw. Hydractive+ eine weitere Entwicklungsstufe der Hydropneumatik, die aber keine Zentralhydraulik mehr wie noch beim Xantia war. Bremsen und Lenkung wurden nicht mehr hydraulisch angesteuert. Im 2005 erscheinenden C6 fand sich die nun Hydractive 4 genannte Technik mit jeweils vier Federkugeln pro Achse.
 
Nach Auslaufen des zahlenmäßig glücklosen C6 2012 fand sich die hydropneumatische Federung noch im C5, wobei dessen günstigere Varianten schon mit Stahl federten. Was viele bereits vermuteten, trat 2015 ein, als Citroën das Ende der Hydropneumatik bei Auslaufen der damals aktuellen C5-Generation ankündigte. Man sollte bei der Beurteilung der Entscheidung zur Einstellung der Hydropneumatik aber immer auch die Situation Citroëns in der ersten Hälfte der 2010er-Jahre ins Kalkül ziehen. Nur durch den Verkauf etlicher Immobilien und Grundstücke (darunter Citroëns Hydraulikwerk Asnières-sur-Seine) und 3 Milliarden zugeflossene Euros wurde PSA Peugeot Citroën vor dem sicheren Ende gerettet. Dass sich ausgerechnet Renault von seinem zweiten Mann Carlos Tavares trennte, muss man wohl als Glücksfall werten und man denkt an den Rauswurf eines André Lefebvres bei Renault viele Jahrzehnte zuvor. Immerhin: Praktisch alle Citroën-Pkw verfügen heute über die hydraulisch-progressiven Dämpfer. Doch die Fertigung der Hydropneumatik als Alleinstellungsmerkmal von Citroën endete 2017 mit dem letzten C5 aus Rennes-la-Janais. Leider.
 
Dieser Artikel erschien erstmals in der André Citroën Zeitung 4/2024, Europas größtem deutschsprachigen Doppelwinkelmagazin!
 
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