Citroën Visa: Der Grenzgänger
Eines ist heute sicher: Hätte Peugeot Citroën nicht übernommen, den VISA in seiner bekannten Form gäbe es wohl nicht. Wir schreiben das Jahr 1974. Die Citroën-Werke stehen damals zum zweiten Mal in ihrer Geschichte am Scheideweg: Während 1934 der traditionsreiche Reifenhersteller Michelin die Kontrolle über das Pariser Unternehmen übernahm und einen Zusammenbruch verhindern konnte, scheint fast genau 40 Jahre später das Spiel schon wieder zu Ende gespielt. Citroën hat sich mit wenig erfolgreichen Firmenbeteiligungen im Ausland, einem gänzlich neuen Werk vor den Toren von Paris und der Entwicklung zweier Modelle zur Serienreife (CX und VD) mächtig übernommen und ist so in gefährliches Fahrwasser geraten.
War man noch ein paar Jahre zuvor an der Übernahme von Peugeot interessiert, ist es nun ausgerechnet der ostfranzösische Hersteller, der seinerseits die Mehrheit an Citroën übernimmt. Für das Citroën-Programm bedeutet der Besitzerwechsel zunächst einen Investitionsstopp für neue Modelle. Ein erstes Opfer ist der so gut wie fertig entwickelte Citroën M – ein moderner Kompaktwagen mit GS-Technik, der einmal die konzeptionell schon veraltete Ami-Reihe ablösen sollte. Stattdessen beläßt man es zunächst bei den eingeführten Modellen. 1976 findet dann die in jenem Jahr endgültig besiegelte Übernahme durch Peugeot auch ihren Niederschlag im Citroën-Programm: Der Citroën LN – nichts anderes als ein Peugeot 104 mit Motoren von Citroën – gibt vielen einen Vorgeschmack auf die künftige Entwicklung bei Citroën.
Während Spötter damals an ein baldiges Ende eigenständiger Citroën-Fahrzeuge denken und die Marke künftig nur noch als Hersteller von mehr oder weniger geratenen Peugeot-Derivaten ansehen, beginnen aber hinter verschlossenen Türen die Arbeiten am Nachfolgemodell des Ami8.
Immer ein Erlebnis Werbepostkarte der deutschen Citroën-Niederlassung von 1978.
Exakt 30 Jahre nach Vorstellung des 2CV, im Spätsommer 1978, kommt mit dem von Jean Giret gezeichneten Citroën VISA ein erster unter gemeinsamer Regie von Peugeot und Citroën entwickelte Pkw auf den Markt. Die Bezeichnung VISA ist ganz Citroën-typisch sinngeladen: Aus Firmensicht steht der VISA für einen Aufbruch zu neuen Horizonten dar. Und in der Tat handelt es sich bei dem neuen Fahrzeug um einen Grenzgänger, zumindest was seine Konzeption und die erstmalige Verwendung von markenfremden Technikkomponenten betrifft. Denn auch wenn bestimmte Merkmale noch an die Entwicklungsergebnisse des aufgegebenen Projektes VD erinnern: Beim VISA handelt es sich zum ersten Mal in der Citroën-Geschichte um ein Fahrzeug, dessen Lastenheft von außen vorgegeben worden ist.
“Rigorose Abkehr” Karosserie des VISA / Bild: Editechnic Citroën 84.46-2 – Unter der Haube des Basismodells findet sich bewährte Citroën-Technik, gepaart mit fortschrittlichen Ansätzen. Bild: Archiv garage2cv.de
So stellt die selbsttragende Karosserie eine rigorose Abkehr von der bisherigen Bauweise à la 2CV oder Ami dar. Weitgehend vom Peugeot-Modell 104 abgeleitet ist daneben die Bodengruppe des VISA mit konventioneller Schraubenfederung. Und während erstmals auch die als robust geltenden Vierzylinder-Motoren des einstmaligen Konkurrenten in den größeren VISA-Modellen eingebaut werden, findet sich bewährte Citroën-Motorentechnik nur noch in den Basismodellen VISA und VISA Club: Die gründlich überarbeitete 2CV-Maschine wartet im VISA als erstem serienmäßigen Auto der Welt mit einer elektronischen Zündanlage auf.
Eine nun 3-fach gelagerten Kurbelwelle sowie die speziell beschichteten Zylinder sind weitere Neuheiten. Der auf 652ccm Hubraum vergrößerte Boxermotor leistet bei deutlich geringerem Verbrauch im Vergleich zu den 2CV-Motoren immerhin bis zu 36 PS und bietet überdies eine für 2 Zylinder-Maschinen nie gekannte Laufruhe. Konzeptionell erreicht damit das aus den vierziger Jahren stammende Aggregat seine letzte Entwicklungsstufe. Lediglich die eigentlich innovative Zündanlage erreicht nie die Robustheit des Boxermotors, schon bald mehren sich Klagen über Störungen der hochsensiblen Zündgeber. Für den nötigen Antrieb sorgt übrigens ein aus der GS-Reihe entliehenes Getriebe.
Ein neuer 8CV ? fragt die Werbung 1978 um zwei Jahre selbstbewusst zu verkünden Das, das ist ein Auto. Citroën VISA. Fotos: Archiv garage2cv.de
Sehr positiv aufgenommen wird auch die gemessen an den Außenmaßen gute Geräumigkeit und der trotz konventioneller Federung außergewöhnliche Federungskomfort des VISA. Weniger gut gelitten ist allerdings von Anfang an das Erscheinungsbild des neuen Autos. Zu verschwenderisch war man bei der Gestaltung mit dem erstmals in größerem Stil verwandten Thermoplastik umgegangen. Denn obwohl der VISA ganz dem Stil seiner Zeit entspricht und ähnliche Fahrzeuge auch von Renault oder Volkswagen erhältlich waren; Front- und Heckbereich gelten vielen als stylistischer Mißgriff. Auch die sogenannten Satelliten, die dem Fahrer eine Bedienung fast aller Funktionen erlauben ohne das dieser seine Hände vom Lenkrad nehmen muss, kommen in der zeitgenössichen Kritik der Tester nicht gut weg. Die deutsche Bild-Zeitung will künftigen Fahrern gar einige Stunden Übungszeit verschrieben wissen.
Schon bald tritt Citroën in einer Werbekampagne der offensichtlich schlecht gelittenen Optik des neuen Wagens entgegen. In Belgien werden unter Schirmherschaft von Königin Fabiola 96 VISA SPECIAL für einen wohltätigen Zweck verlost. Die Schlüsselübergabe erfolgt auf der Grand Place in Brüssel. Unter dem Motto “VISA POUR LA FRANCE” machen sich ab März 1980 zwanzig französische Nachwuchsjournalisten aus Lille auf den Weg durchs Hexagon. Ihre Aufgabe: Auf allen Strassen des Landes Tondokumente sammeln (und den VISA promoten).
Ungewöhnlich für ein eigentlich neues Auto – aber vor dem Hintergrund des verpatzten Starts verständlich – sind die limitierten Sondermodelle SEXTANT und CARTE NOIRE in die noch im Laufe des Jahres 1980 in die Schaufenster der französischen Händler kommen. Und seit dem Pariser Salon 1980 ergänzen zwei gänzlich neue Modelle das VISA-Programm: VISA SUPER E und VISA SUPER X, beide allerdings ausgestattet mit Peugeot-Motoren.
Wesentlich besser gelitten ist der neue VISA durch die beschrieben Maßnahmen allerdings nicht, denn die Zeiten als ein hungriger französischer Markt noch jedes Citroën-Produkt aufnahm, sind Anfang der Achtziger Jahre endgültig vorbei. Noch das Vorgängermodell AMI konnte sich trotz seiner sofort viel diskutierten Optik anderthalb Jahrzehnte nur leicht retuschiert auf dem Markt behaupten, doch in Zeiten der Vollmotorisierung verzeihen auch französische Kunden immer weniger stylistische Alleingänge unter dem Doppelwinkel. Im Ergebnis ist bereits kurz nach Erscheinen der Reihe größerer Aufwand von Nöten, um dem VISA zu nachhaltigem Absatz zu verhelfen. Citroën VISA: Neuanfang nach zwei Jahren →
Von Jan Eggermann, 2004
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